In der europäischen „Vormoderne“ standen die drei Erkenntnissphären Religion, Kunst und Wissenschaft unter dem integrativen Dach der christlichen Universitas als arbeitsteiliges System zur Produktion, Kommunikation, Verarbeitung, Speicherung und Integration von Wissen im Zentrum der Gesellschaft. In der darauffolgenden europäischen Epoche der „westlichen Neuzeit“ behauptete allein die Wissenschaft den Rang eines legitimen „harten“ Erkenntnissystems, während die Kunst durch Kommerzialisierung und die Religion durch Privatisierung aus der ursprünglichen Erkenntnis-Triade verdrängt worden sind. Dies führte in der Späten Neuzeit zu einer Überforderung der Wissenschaft, da ihr Kommunikationsmittel, die argumentative Sprache, nun die verdrängten Sprachsysteme der Kunst und Religion imitieren musste, um die kommunikative Verbindung zu der für die Finanzierung von Forschung wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsebene der Gesellschaft nicht zu verlieren. Die Imitation der Sprachsysteme der Kunst und Religion durch die Wissenschaft erzeugte das Pseudo-Sprachsystem der neuzeitlichen Ideologie. In der Endphase der Neuzeit war das gesamte wissenschaftliche Denken von ideologischen Konzepten kontaminiert. Erst im Zuge der „ökologisch-digitalen Revolution“ gelang es der Wissenschaft, sich, durch das Mittel der methodischen Achtsamkeit, von ideologischer Kontamination zu befreien. Die so vollzogene Rückkehr der Wissenschaft in ihre überepochale Rolle kann — aufgrund der gegenwärtig noch immer wirksamen neuzeitlichen Ausgrenzung der Kunst und Religion — nur emotional, nicht jedoch mental verarbeitet werden. Dieser asynchrone Zustand, „[…] daß das Alte [die ideologische Wissenschaft] stirbt und das Neue [die Reintegration von Wissenschaft, Kunst und Religion] nicht geboren werden kann“, führt gegenwärtig zu einer Krise, die erst überwindbar ist, wenn die Kunst und die Religion ihre Plätze in der Erkenntnis-Triade wieder einnehmen können.
Angst als Ausdruck der Sehnsucht nach Veränderung
Gegenwärtig werden in unserer Gesellschaft viele Menschen von Unruhe und Ängsten geplagt. Neben konkreten und existenziellen Sorgen um die eigene Gesundheit oder die wirtschaftliche Zukunft drängt die Ratlosigkeit gegenüber den mehr und mehr um sich greifenden gesellschaftlichen Spaltungserscheinungen in das Bewusstsein.
Unterschiedliche argumentative Standpunkte nehmen immer häufiger den Charakter von sich unversöhnlich gegenüberstehenden Bekenntnissen an. Ein sachlicher Austausch erweist sich dann als unmöglich. Stattdessen erhitzen sich, im starren Beharren, die Gemüter gegenseitig bis zur Weißglut. Die so erzeugten kommunikativen Widersprüche stiften weitere Verwirrung. Nichts scheint mehr Halt und Orientierung zu geben. Ein Gefühl des „rasenden Stillstandes“ greift allenthalben um sich.
Dieser Zustand ähnelt der zeitgenössischen Wahrnehmung historischer Umbrüche: Wie das logische Denken Platons seine Entstehung einer Krise des etablierten mythologischen Weltbildes verdankte, jene Hochphase der Philosophie und Kunst, welche uns, gemeinsam mit den gotischen Kathedralen, auch die mentalen Fundamente Europas hinterließ, ihren Ausgangspunkt in den Umbrüchen des römischen Imperiums fand oder die „westliche Neuzeit“ im Bedürfnis nach moralischer Gewissheit in der Phase eines zu sinnentleerten Ritualen erstarrten Traditionsverständnisses wurzelte, so könnte auch unsere gegenwärtige Verwirrung einen erneuten „Weltbild-Wandel“ anzeigen.
Nur Umbrüche epochaler Dimension tragen derartige Wandlungspotenziale in sich. Dabei bedingen Niedergang und Aufbruch einander: Ohne, dass bisherige Deutungsmonopole an Überzeugungskraft verlieren, entsteht keine Sehnsucht nach grundlegenden Veränderungen.
Ein Wandel epochaler Dimension?
In vorangegangenen Groß-Transformationen ging dem Bedeutungsverlust einst dominanter Vorstellungswelten eine Abnahme ihrer „integrationalen Wirksamkeit“ voraus. Wir können diesen Prozess gegenwärtig anhand der großen Erzählung vom „Fortschritt durch Wachstum“ nachvollziehen. Wenn wir auf die Fragen „Gelingt es dieser Idee noch, unserem Leben Sinn zu verleihen, unsere Emotionen zu stabilisieren und unsere Ängste zu lindern?“ mit „Nein“ antworten müssen, wird deutlich, dass die Epochenschwelle emotional bereits überschritten worden ist. Mental hingegen sind wir dazu nicht in der Lage, da der inzwischen erreichte wissenschaftliche Erkenntnisstand bisher noch nicht in allgemeingültige sprachliche Bedeutungsinhalte übersetzt werden konnte. Es herrscht also immer noch der bereits um 1930 von dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci beschriebene krisenhafte Zustand vor „[…] daß das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann.“
Emotional auf die „Geburt des Neuen“ angewiesen und mental dennoch an das „sterbende Alte“ gebunden zu sein, verursacht das schmerzhafte Gefühl des „Teilverlusts“ unseres Weltbildes. Da sich Meta-Prozesse wie der Klimawandel oder das Artensterben nicht mehr proaktiv in der überkommenen Deutungserzählung von der „Erwartbarkeit der Vergangenheit“ und der „Machbarkeit der Zukunft“ abbilden lassen, verliert diese ihre zentrale normierende Position. Als Folge dieses Funktionsverlustes zerfallen unsere kommunikativen und gesellschaftlichen Diskursräume in labil schwebende Identitätsorte. Ein unüberschaubares Meer von zueinander inkompatiblen „Wahrnehmungs-“ und „Denkblasen“ entsteht. Gleich einem Spiegel, der in Scherben fällt, zeigt jedes einzelne Bruchstück nur noch einen kleinen Ausschnitt des ehemaligen Deutungsganzen.
Ein argumentativer Austausch auf der Basis „Sprache“ kann nicht mehr gelingen, wenn die Kommunikationspartner zwar dieselben Wörter verwenden, in diese aber zuvor inkompatible Vorstellungen eingeschrieben worden sind. Denn dafür, dass nicht nur Begriffe, sondern auch die von ihnen repräsentierten Bedeutungsinhalte von einer gesellschaftlichen Mehrheit geteilt werden können, sorgte bisher der nun zersprungene „Spiegel“ oder besser jenes große, die Deutungsnormen bestimmende, Gewölbe aus gegenseitigen literarischen Referenzen, dessen Zusammenbruch die gegenwärtige „babylonische Sprachverwirrung“ erst verursacht hat.
Der Funktionsverlust der überkommenen mentalen „Meta-Struktur“ hat Folgen für die kollektive Wissenskommunikation und -organisation: Die gemeinschaftliche Teilhabe am Austausch von Wissen kommt zum Erliegen. Genau jener Stillstand produziert eine stetige und sich selbst verstärkende Zunahme von Ereignissen des gesellschaftlichen Scheiterns, welche wiederum zu widersprüchlichen Emotionen führen. Eine sich selbst verstärkende Zerstörungsspirale nimmt ihren Lauf.
Wie können wir unsere Handlungsfähigkeit zurückgewinnen?
Es hilft, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass unsere kulturellen Traditionen bereits durch mehrere Umbrüche dieser Dimension hindurch transformiert worden sind. Derartige, im Abstand von Jahrhunderten zyklische, „Großrevisionen“ sind offenbar für die nachhaltige Korrektur unseres Integrationsvermögens und der daraus resultierenden Fähigkeit zum Umgang mit der umgebenden Umwelt sogar unerlässlich. Ohne aber, dass sich in der Vergangenheit Menschen in ähnlichen Situationen den Wert von jenseits ihres zeitgenössischen Horizonts liegenden Ideen und Konzepten als „Ermöglichungspotenzial“ zu eigen machten, würden wir heute beispielsweise wohl kaum mehr über Wissen aus der Zeit der klassischen Antike verfügen.
Es fand also anlässlich großer historischer Zäsuren ein bewusstes Aussondern, Bewahren und Reaktivieren von Konzepten, Wissen und Traditionen statt. Diese historische Praxis steht uns auch gegenwärtig als Handlungsoption zur Verfügung, denn die unterschiedlichen Verbindungsstränge in die Vergangenheit reißen nie gleichzeitig ab: In der uns umgebenden Landschaft mit ihren Kulturdenkmälern finden wir zahlreiche „Tore“ zur Welt der „Longue durée“ (Fernand Braudel), also der sich am dauerhaftesten in historischen Prozessen manifestierenden Strukturen. Diese „Zeit-Portale“ ermöglichen es uns, ganzheitlich — also Körper und Geist einbeziehend — mit dem überepochalen „Myzel“ unserer Kultur in sinnlichen Kontakt zu treten. Wir sollten jene Orte in diesem Bewusstsein aufsuchen: Sie können mit ihrer konkreten haptischen Erlebbarkeit unser Wahrnehmungsvermögen für zeitliche „Fern-Dimensionen“ sensibilisieren helfen. So eröffnet sich uns eine direkte Motivation zur Weitung des eigenen zeit-räumlichen Bezugshorizonts.
Platon erreichte seine Horizonterweiterung, indem er sich auf die Bewegung der Gestirne konzentrierte und darin eine vom gesellschaftlichen Chaos in seiner Umgebung unabhängige Ordnung erkannte. In der Spätantike erfolgte die geistige Neufokussierung als kreativer Gemeinschaftsakt: Als der Norden Europas im 6. Jahrhundert von jener gewaltigen Naturkatastrophe heimgesucht wurde, welche die sogenannte „kleine spätantike Eiszeit“ auslöste und gleichzeitig eine die alten römischen Metropolen erfassende Pest-Pandemie im Mittelmeerraum zu Weltuntergangsängsten führte, fand man den Ausweg in einem neuartigen, weit ausgreifenden kulturellen Konzept, welches das antike logische Denken, christliches Gedankengut und die emotionale Tiefe der mündlichen Kultur des skandinavisch geprägten Nord- und Ostsee-Raumes verschmolz und so die Grundlage für eine erneute europäische Hochphase der Kunst und des Denkens legte. Der Siegeszug der neuzeitlichen Kultur des „globalen Westens“ hingegen ist untrennbar mit der Erfindung des Buchdrucks verbunden. Bücher etablierten sich als Medium einer neuartigen Qualität der Selbsterfahrung des Lesenden als autonomes Subjekt. Erst diese Voraussetzung machte das Denken der klassischen Moderne in seiner ganzen Komplexität und Kühnheit möglich.
Wer Neues will, benötigt Verständnis und Struktur im Jetzt
Die vor einigen Jahrzehnten eingeleitete „ökologisch-digitale Revolution“ basiert auf älteren Entwicklungen naturwissenschaftlicher Methoden zur Verifizierung geisteswissenschaftlich konstruierter Beschreibungsmodelle. Am Beispiel der Archäologie — einem wichtigen Überlappungsgebiet zwischen Geistes- und Naturwissenschaften — lässt sich exemplarisch verfolgen, wie zunächst neuartige „ökologische“ Mess- und Dokumentationsmethoden und später digitale Datenverarbeitungs-, Bildgebungs- und Auswertungsverfahren zur stetig wachsenden Notwendigkeit einer reinigenden Überarbeitung etablierter Deutungsmodelle führten. Die Geisteswissenschaften erhielten so aus der Richtung der Naturwissenschaften Impulse in Richtung einer methodischen Achtsamkeit. Das infolge dieses Austauschs entstandene wissenschaftliche Verantwortungsgefühl gegenüber sprachlich-ideologischen Konstruktionen bringt nun den eigentlichen „Stoff des Wandels“ hervor: neuartige, unter Wissenschaftlern global abgestimmte, sprachliche „Sinn-Konventionen“, auf deren Basis zahlreiche, bisher als unvereinbare Gegensatzpaare beschriebene, Kategorien in ein universales System des vernetzten Denkens einbezogen werden können. Durch jenen Prozess wird die „Grenzenfixiertheit“ des sterbenden Weltbildes überwunden, da die dem neuzeitlichen westlichen Denken zugrunde liegenden geistigen Trennlinien zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit und dem Hier und dem Dort eingeebnet werden können.
Inzwischen entstand so ein neuartiger wissenschaftlicher Zugang zu unserer Umwelt, welcher Komplexität nicht ideologisch zu Gegensatzpaaren vereinfachen muss, sondern den Blick auf „zerklüftete“ und „unzähmbare“ Realitäten zulässt. Diese neue Perspektive mental zu beherrschen, stellt eine Herausforderung dar, denn die von der Wissenschaft ausgehende Konfrontation mit „ungefilterter Wirklichkeit“ verlagert die Aufgabe der „Bewältigungsarbeit“ wieder zurück in die kulturelle Sphäre. Dort fällt sie zunächst in den Bereich der künstlerischen Reflexion, also des Umgangs, der Darstellung und Bewusstmachung von Spannungszuständen im ursprünglichen Sinne des Wortes „verstehen“ als „vor einem Objekt stehen“ (um es besser wahrnehmen zu können). Das so von der Wissenschaft produzierte und von der Kunst „verständlich“ gemachte Wissen wird schließlich von der religiösen Sphäre — mithilfe ihres reichen Schatzes an rituellen Techniken und kontemplativen Traditionen — über demonstrative und zur aktiven Anteilnahme einladende Verarbeitungsprozesse auf der Basis einer emotionalen „Akzeptanz der zerklüfteten Wirklichkeit in Liebe“ zu einer mentalen „Universitas“ integriert.
Mit der Wiederbelebung jener vormodernen „Arbeitsteilung“ zwischen Wissenschaft, Kunst und Religionen werden die vom westlich-neuzeitlichen Denken vorgenommenen Grenzziehungen zwischen den großen überepochalen Erkenntnissystemen überwunden.
Als Medium zur Verständigung über Wissen rückt die Kunst in der bevorstehenden Epoche also wieder auf ihren angestammten Ort im Zentrum unserer Gesellschaft zurück, dorthin, wo gegenwärtig noch die „Lobbyisten des Wachstums“ mit ihren ideologischen Erklärungserzählungen Platz genommen haben. In der notwendigen Emanzipation der Kunst von ihrer neuzeitlichen Fesselung an die politische und wirtschaftliche Macht liegt folglich ein revolutionäres Konfliktpotenzial, welches sich möglicherweise bereits im gegenwärtig anhebenden Kampf von Künstlern um ihren Platz in der Gesellschaft zu entladen beginnt.
Die „Sprache“ der Kunst kann sich älterer kommunikativer Mittel bedienen als des logisch-argumentativen Verbalisierens. Diese Fähigkeit zur kommunikativen Einbeziehung der archetypischen „Longue durée“-Ebene ermöglicht dem Menschen eine direkte und ganzheitliche „Tiefenprüfung“ künstlerischer Aussagen mit allen ihm zur Verfügung stehenden mentalen und emotionalen Sensoren. Eine intensivere Möglichkeit zur Beurteilung als bei der Begegnung mit Kunst ist folglich nicht möglich. Das macht ihren Wert als überzeitliches Transfermittel für Wissen aus.
Erst im Zusammenwirken der aus sich selbst heraus verifizierbaren „Sprache“ der Kunst mit dem überkommenen Repertoire an religiösen Kulturtechniken zur Integration von Widersprüchen und Brüchen werden wir in die Lage versetzt, die ungestüme Totalität der ideologiefreien wissenschaftlichen Erkenntnis gewinnbringend in unseren Emotionen Halt gebende universale Strukturen zu übersetzen, um so — jenseits argumentativ-ideologischer Verzerrungen — einen Zugang zu wesentlichen Grundkonzepten unserer Welt erlangen zu können, dessen ganzheitliche Qualität diejenige des von „Grenzenfetischismus“ geprägten Weltbildes der zurückliegenden neuzeitlichen Epoche weit übersteigen dürfte. Auf der Basis dieses neuartigen kulturellen Fundaments kann die in unseren Gefühlen wurzelnde Energie jenen festen Grund finden, der für einen gerichteten „Absprung“ in „das Neue“ notwendig ist. Solange uns aber das Bündeln unserer Emotionen nicht gelingt, „drehen Energien frei“. Dieser „Zerstörungsmodus“ ungerichteter Emotionalität ist sinnvoll, um das Alte zu zerschlagen. Er hilft aber nicht bei der Suche nach dem Neuen: Wer Neues denken will, benötigt Verständnis und Struktur im Jetzt!
Unsere Vergangenheit zeigt, dass sich der menschliche Erkenntnisdrang nicht dauerhaft behindern lässt. Trotz des Wunsches vieler, den laufenden Transformationsprozess zu stoppen oder gar umzukehren, wird es daher kein dauerhaftes Zurück zu Vorstellungen des Denkens in die geistig abgegrenzten ideologischen Seinsformen der neuzeitlichen Vergangenheit geben, da unser Wissen nicht mehr — wie in den vergangenen Jahrhunderten — an das „formatierend“ eingrenzende Trägermedium Papier gekoppelt ist. Mit dem Ende der formalen Begrenztheit eines an die materielle Physis gebundenen Datenträgers verlor auch die Notwendigkeit von territorialen Grenzziehungen völlig ihren Sinn. Inzwischen konfrontiert uns unsere technologische Gestaltungsmacht längst mit einer globalen Verantwortung, welche sich im Gedankenmodell staatlich eingegrenzter „Völker“ als Konsequenz einer noch immer an den Prinzipien des hierarchisch-papiernen frühneuzeitlichen Fürstenstaates ausgerichteten Verwaltungsmaschinerie weder abbilden noch handhaben lässt.
Jenseits des Egoismus: Vom Empfinden der Resonanz zur Verantwortung
Das Denken der vergangenen Neuzeit umgrenzte das „Ich“ zum „autonomen Subjekt“, das „Wir“ zum „autonomen Volk“ und schließlich „Gott“ zu einer „Deifizierung“ des „autonomen Nationalstaates“. Gegenwärtig erfahren wir hingegen immer deutlicher, dass alles in unserem globalen ökologischen System mit allem interagiert. Der blinde Glaube an das „autonome Subjekt“, welches — als geteilte Fiktion einer Gemeinschaft der Lesenden — in der neuzeitlichen Vergangenheit so vertraut geworden zu sein scheint, löst sich in einer Welt aus bewusst wahrgenommenen universalen Beziehungsnetzwerken ebenso auf wie die ideologische Erzählung vom „Volkskörper“ oder die naive Vorstellung von einem politische Partei ergreifenden personalen Gott.
Tatsächlich ist uns längst vertraut, dass eine große Vielfalt verbundener Faktoren, zumeist unbewusst, gleichzeitig auf uns einwirkt. Der aus dieser Erkenntnis resultierende Verlust des Glaubens an „autonome“ persönliche Identitäten findet auch im Kollektiven seine Entsprechung: So handelt es sich bei der bisher als stabile gemeinschaftliche Seinsform geglaubten Idee der „Völker“ offensichtlich keineswegs um statische, sondern aus hochdynamischen Wir-Beziehungen bestehende Gebilde, welche sich in mannigfacher Weise plötzlich verändern, mischen und überlagern können. Gottesvorstellungen, die personale Charakterzüge postulieren, sind schon seit der antiken platonischen Götterlehre obsolet!
Spannend wäre nun die Frage, wie Demokratie organisiert werden kann, wenn das zugrunde liegende Konzept von „Volk“ als Masse aus „souveränen Individuen“ längst wissenschaftlich dekonstruiert worden ist. Wie gestalten wir zukünftig Identitäten, wenn sich jegliche Vorstellungen von Barrieren — aufgrund ihrer relativen Durchlässigkeit und unserer unendlichen Verletz- und Vernetzbarkeit — lediglich als angstbetäubende Wunschvorstellungen herausstellen?
Wenn unser „Ich“ nicht in einem abgekapselten „Reinraum“ „autonom“ existiert, sondern — als Resultat lebendiger Beziehungsresonanzen mit unserer realen oder imaginierten Umgebung — jederzeit physisch oder psychisch „kontaminiert“ werden kann: Verpflichtet uns eben das nicht zu einer Achtsamkeit und Verantwortung gegenüber der nachhaltigen und ästhetischen Gestaltung jener Umgebung? Wenn wir anerkennen und würdigen müssen, dass Identitäten variabel und vielfältig sein können: Benötigen wir dann nicht erst recht eine in mitmenschlicher Nächstenliebe gemeinschaftlich geteilte Zielvorstellung?
Das reiche kulturelle Erfahrungswissen Hunderter Generationen steht uns in digitaler Form rund um die Uhr zur Verfügung: Ein Smartphone genügt, um diesen Schatz der Menschheit anzuzapfen. Faszinierende Technologie ermöglicht es uns, Informationen und Wissen besser zu verknüpfen als jemals zuvor. Die Methodik des wissenschaftlichen Denkens hat eine nie da gewesene Effizienz erreicht. All diese Potenziale liegen bereit und wollen von uns kreativ genutzt werden, um unseren Emotionen — und damit unserer Gestaltungsenergie — Richtung zu verleihen.
Mit einem mentalen Korsett aus dem Dampfmaschinen-Zeitalter aber fesseln wir uns selbst: Denn nicht seelenlose Technologie definiert unsere Handlungsspielräume: Erst sinngerichtetes Denken öffnet uns Pfade in die Zukunft. Zur Sinnstiftung benötigen wir keine körperlosen algorithmischen „Optimierungsmaschinen“, sondern die lustvolle Wiederbelebung der vormodernen triadischen Erkenntniseinheit aus logisch-valide produziertem Wissen, künstlerisch-verarbeitendem Verstand und religiös-integrativem Herz. Denn: Erkenntnis — und nicht Technologie — ermächtigt uns zur Tat!
Mit einer Einstellung des ängstlichen Festhaltens, der neoliberalen Fixierung auf konsumorientiertes Wuchern, des gnadenlosen Konkurrenz-Denkens und der induzierten Dauerunruhe blasenschlagender digitaler Selbstbespiegelungen aber bleiben wir „rasend regungslos“.
Konsumieren wir stattdessen neues Wissen, indem wir uns des künstlerischen Verstandes bedienen, um unser Herz in Liebe zu bilden! Ermächtigen wir uns des kulturellen Erfahrungsspeichers jenseits der zersprungenen neuzeitlichen Brille: Blicken wir nach vorn! Vor uns liegt Arbeit und es gilt anzupacken, nachzudenken, zu erkunden und zu forschen, auszuprobieren, zu diskutieren und zu gestalten — es gilt, „das Neue“ auf die Welt zu bringen!
Bernburg, November 2020
Weiterführende Literatur
Georg Glasze / Annika Mattissek (2009): „Schlüsselkonzepte und -aussagen der Diskurs- und Hegemonietheorie“ in Georg Glasze / Annika Mattissek: „Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung“ (2009), S. 157-179.
„Der Textabschnitt stellt die Hegemonie- und Diskurstheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor. Dieses Erklärungsmodell gesellschaftlicher Kommunikation „[…] hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Fluchtpunkt poststrukturalistischer Theoriebildung entwickelt und hat zahlreiche empirische Arbeiten der Diskursforschung inspiriert und angeleitet.“
Johannes Hoff (2018): „The Eclipse of Sacramental Realism in the Age of Reform: Re-thinking Luther’s Gutenberg Galaxy in a Post-Digital Age.“
„In den letzten 500 Jahren oszillierte unsere moderne Welt zwischen dem Glauben an „entzauberte“ Strategien der bürokratischen Kontrolle und Überwachung und der Feier ikonoklastischer Brüche, die unser Gefühl von Freiheit und Würde bewahren sollen. Doch das Gleichgewicht zwischen diesen Polen ist nach der Jahrtausendwende aus dem Lot geraten. Während die Besessenheit von Kontrolle konzertierte Bemühungen ausgelöst hat, unsere angeblich irrationale Intelligenz durch die „künstliche Intelligenz“ der digitalen Technologien zu ersetzen, hat die Einführung von ICT-Technologien in unser tägliches Leben die ikonoklastische Überzeugung untergraben, dass Artefakte lediglich Werkzeuge sind. Unsere Smartphones haben ein „magisches Leben“ an sich – sei es, dass sie sich ein Leben leisten, das wir schätzen, oder dass sie uns in ein Leben stürzen, das wir verabscheuen. Diese Herausforderung verlangt von uns, dass wir unsere Fähigkeit wiedererlangen, zwischen götzendienerischen Anhaftungen und dem umsichtigen Gebrauch „magischer Objekte“ zu unterscheiden, der mit unserem natürlichen Wunsch, unser Leben zum Besseren zu verändern, in Einklang steht. Im folgenden Aufsatz wird die Frage erörtert, inwieweit die Grundannahmen der konfessionalisierten Religionen der nachreformatorischen Ära uns von der Aufgabe ablenken, uns dieser Herausforderung zu stellen. Darüber hinaus wird er die moderne Neigung in Frage stellen, die Beschäftigung mit sakramentalen Objekten durch die Beschäftigung mit frommen „Hauptsignifikanten“ zu ersetzen: autoritative Substitute des „Leibes Christi“, wie die eucharistische Hostie, die Bibel oder säkulare Parteibücher, die die Bindung an religiöse Traditionen auf eine Frage des formalen Glaubens und die Unterwerfung unter ein autoritatives System klerikaler, bürokratischer oder (heute) roboterhafter Überwachung reduzieren.“ (Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator)
Vincent August (2019): „Von ›Unregierbarkeit‹ zu Governance: Neoliberale, teleologische und technologische Staatskritik.“ In: Ahmet Cavuldak (Hg.): Die Grammatik der Demokratie. Das Staatsverständnis von Peter Graf Kielmansegg (Staatsverständnisse, 124), S. 287–312.
„Die Krisen der 1970er Jahre waren der Katalysator für eine große Transformation, in der die Beschaffenheit und das Verhältnis von ›Politik‹ und ›Gesellschaft‹ völlig neu austariert wurden. Der Beitrag analysiert die Transformation historisch und systematisch. Dafür umreiße ich das Staatsverständnis der Nachkriegszeit als Voraussetzung für die Krisendiskurse (2.) und stelle dann im Detail die vier großen Kritikstränge der Debatte vor: Institutionalismus, Neomarxismus, Neoliberalismus und Netzwerk-Denken (3. und 4.). Abschließend diskutiere ich den Wandel des Regierungs- und Staatsverständnisses, wie er sich in den neuen Deutungsmustern bereits abzeichnete (5.). In den Krisen haben der klassische Institutionalismus (Kielmansegg, Hennis, King z.B.) und der Neomarxismus (Offe, Mandel z.B.) analytisch und normativ an Einfluss verloren. An ihre Stelle traten nunmehr (neo-)liberale und technologische Rationalitäten, die unsere Vorstellungen von Staatlichkeit durch Markt- und Netzwerk-Logiken neu formten. Es ist daher unzureichend, unsere Gegenwart als neoliberale Welt zu beschreiben, denn dies unterschlägt den Einfluss und die Folgen eines zweiten Paradigmas: des Netzwerk-Denkens (Foucault, Luhmann, Crozier z.B.).“
Vom Vincent August erscheint voraussichtlich bis zum 27. März 2021 als Open Access zum Download:
Vincent August: „Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik“
„Das Netzwerk ist ein Grundbegriff des 21. Jahrhunderts geworden – und mit ihm die Diagnose, dass wir in einem neuen Zeitalter leben, in dem es auf Konnektivität, Flexibilität und Selbstorganisation ankommt. In einer groß angelegten Geschichte des Regierungsdenkens zeichnet Vincent August erstmals diese fundamentale Transformation nach. Er zeigt, dass unsere Welt keineswegs nur durch den Neoliberalismus geprägt wird – und dass die Netzwerk-Gesellschaft nicht einfach ein Resultat des Internets oder von Computern ist. Vielmehr griffen Berater*innen und Intellektuelle wie Foucault, Crozier oder Luhmann auf die Kybernetik zurück, um die Ideenwelt der Souveränität abzulösen und unser Regierungsdenken grundlegend zu verändern. Eine Analyse spätmoderner Gesellschaften kommt ohne eine Analyse dieses Netzwerk-Paradigmas nicht aus.“
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Emotionale Energien und geistige Strukturen als Voraussetzungen für „die Geburt des Neuen“
Von Olaf Böhlk
Abstract
In der europäischen „Vormoderne“ standen die drei Erkenntnissphären Religion, Kunst und Wissenschaft unter dem integrativen Dach der christlichen Universitas als arbeitsteiliges System zur Produktion, Kommunikation, Verarbeitung, Speicherung und Integration von Wissen im Zentrum der Gesellschaft. In der darauffolgenden europäischen Epoche der „westlichen Neuzeit“ behauptete allein die Wissenschaft den Rang eines legitimen „harten“ Erkenntnissystems, während die Kunst durch Kommerzialisierung und die Religion durch Privatisierung aus der ursprünglichen Erkenntnis-Triade verdrängt worden sind. Dies führte in der Späten Neuzeit zu einer Überforderung der Wissenschaft, da ihr Kommunikationsmittel, die argumentative Sprache, nun die verdrängten Sprachsysteme der Kunst und Religion imitieren musste, um die kommunikative Verbindung zu der für die Finanzierung von Forschung wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsebene der Gesellschaft nicht zu verlieren. Die Imitation der Sprachsysteme der Kunst und Religion durch die Wissenschaft erzeugte das Pseudo-Sprachsystem der neuzeitlichen Ideologie. In der Endphase der Neuzeit war das gesamte wissenschaftliche Denken von ideologischen Konzepten kontaminiert. Erst im Zuge der „ökologisch-digitalen Revolution“ gelang es der Wissenschaft, sich, durch das Mittel der methodischen Achtsamkeit, von ideologischer Kontamination zu befreien. Die so vollzogene Rückkehr der Wissenschaft in ihre überepochale Rolle kann — aufgrund der gegenwärtig noch immer wirksamen neuzeitlichen Ausgrenzung der Kunst und Religion — nur emotional, nicht jedoch mental verarbeitet werden. Dieser asynchrone Zustand, „[…] daß das Alte [die ideologische Wissenschaft] stirbt und das Neue [die Reintegration von Wissenschaft, Kunst und Religion] nicht geboren werden kann“, führt gegenwärtig zu einer Krise, die erst überwindbar ist, wenn die Kunst und die Religion ihre Plätze in der Erkenntnis-Triade wieder einnehmen können.
Angst als Ausdruck der Sehnsucht nach Veränderung
Gegenwärtig werden in unserer Gesellschaft viele Menschen von Unruhe und Ängsten geplagt. Neben konkreten und existenziellen Sorgen um die eigene Gesundheit oder die wirtschaftliche Zukunft drängt die Ratlosigkeit gegenüber den mehr und mehr um sich greifenden gesellschaftlichen Spaltungserscheinungen in das Bewusstsein.
Unterschiedliche argumentative Standpunkte nehmen immer häufiger den Charakter von sich unversöhnlich gegenüberstehenden Bekenntnissen an. Ein sachlicher Austausch erweist sich dann als unmöglich. Stattdessen erhitzen sich, im starren Beharren, die Gemüter gegenseitig bis zur Weißglut. Die so erzeugten kommunikativen Widersprüche stiften weitere Verwirrung. Nichts scheint mehr Halt und Orientierung zu geben. Ein Gefühl des „rasenden Stillstandes“ greift allenthalben um sich.
Dieser Zustand ähnelt der zeitgenössischen Wahrnehmung historischer Umbrüche: Wie das logische Denken Platons seine Entstehung einer Krise des etablierten mythologischen Weltbildes verdankte, jene Hochphase der Philosophie und Kunst, welche uns, gemeinsam mit den gotischen Kathedralen, auch die mentalen Fundamente Europas hinterließ, ihren Ausgangspunkt in den Umbrüchen des römischen Imperiums fand oder die „westliche Neuzeit“ im Bedürfnis nach moralischer Gewissheit in der Phase eines zu sinnentleerten Ritualen erstarrten Traditionsverständnisses wurzelte, so könnte auch unsere gegenwärtige Verwirrung einen erneuten „Weltbild-Wandel“ anzeigen.
Nur Umbrüche epochaler Dimension tragen derartige Wandlungspotenziale in sich. Dabei bedingen Niedergang und Aufbruch einander: Ohne, dass bisherige Deutungsmonopole an Überzeugungskraft verlieren, entsteht keine Sehnsucht nach grundlegenden Veränderungen.
Ein Wandel epochaler Dimension?
In vorangegangenen Groß-Transformationen ging dem Bedeutungsverlust einst dominanter Vorstellungswelten eine Abnahme ihrer „integrationalen Wirksamkeit“ voraus. Wir können diesen Prozess gegenwärtig anhand der großen Erzählung vom „Fortschritt durch Wachstum“ nachvollziehen. Wenn wir auf die Fragen „Gelingt es dieser Idee noch, unserem Leben Sinn zu verleihen, unsere Emotionen zu stabilisieren und unsere Ängste zu lindern?“ mit „Nein“ antworten müssen, wird deutlich, dass die Epochenschwelle emotional bereits überschritten worden ist. Mental hingegen sind wir dazu nicht in der Lage, da der inzwischen erreichte wissenschaftliche Erkenntnisstand bisher noch nicht in allgemeingültige sprachliche Bedeutungsinhalte übersetzt werden konnte. Es herrscht also immer noch der bereits um 1930 von dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci beschriebene krisenhafte Zustand vor „[…] daß das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann.“
Emotional auf die „Geburt des Neuen“ angewiesen und mental dennoch an das „sterbende Alte“ gebunden zu sein, verursacht das schmerzhafte Gefühl des „Teilverlusts“ unseres Weltbildes. Da sich Meta-Prozesse wie der Klimawandel oder das Artensterben nicht mehr proaktiv in der überkommenen Deutungserzählung von der „Erwartbarkeit der Vergangenheit“ und der „Machbarkeit der Zukunft“ abbilden lassen, verliert diese ihre zentrale normierende Position. Als Folge dieses Funktionsverlustes zerfallen unsere kommunikativen und gesellschaftlichen Diskursräume in labil schwebende Identitätsorte. Ein unüberschaubares Meer von zueinander inkompatiblen „Wahrnehmungs-“ und „Denkblasen“ entsteht. Gleich einem Spiegel, der in Scherben fällt, zeigt jedes einzelne Bruchstück nur noch einen kleinen Ausschnitt des ehemaligen Deutungsganzen.
Ein argumentativer Austausch auf der Basis „Sprache“ kann nicht mehr gelingen, wenn die Kommunikationspartner zwar dieselben Wörter verwenden, in diese aber zuvor inkompatible Vorstellungen eingeschrieben worden sind. Denn dafür, dass nicht nur Begriffe, sondern auch die von ihnen repräsentierten Bedeutungsinhalte von einer gesellschaftlichen Mehrheit geteilt werden können, sorgte bisher der nun zersprungene „Spiegel“ oder besser jenes große, die Deutungsnormen bestimmende, Gewölbe aus gegenseitigen literarischen Referenzen, dessen Zusammenbruch die gegenwärtige „babylonische Sprachverwirrung“ erst verursacht hat.
Der Funktionsverlust der überkommenen mentalen „Meta-Struktur“ hat Folgen für die kollektive Wissenskommunikation und -organisation: Die gemeinschaftliche Teilhabe am Austausch von Wissen kommt zum Erliegen. Genau jener Stillstand produziert eine stetige und sich selbst verstärkende Zunahme von Ereignissen des gesellschaftlichen Scheiterns, welche wiederum zu widersprüchlichen Emotionen führen. Eine sich selbst verstärkende Zerstörungsspirale nimmt ihren Lauf.
Wie können wir unsere Handlungsfähigkeit zurückgewinnen?
Es hilft, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass unsere kulturellen Traditionen bereits durch mehrere Umbrüche dieser Dimension hindurch transformiert worden sind. Derartige, im Abstand von Jahrhunderten zyklische, „Großrevisionen“ sind offenbar für die nachhaltige Korrektur unseres Integrationsvermögens und der daraus resultierenden Fähigkeit zum Umgang mit der umgebenden Umwelt sogar unerlässlich. Ohne aber, dass sich in der Vergangenheit Menschen in ähnlichen Situationen den Wert von jenseits ihres zeitgenössischen Horizonts liegenden Ideen und Konzepten als „Ermöglichungspotenzial“ zu eigen machten, würden wir heute beispielsweise wohl kaum mehr über Wissen aus der Zeit der klassischen Antike verfügen.
Es fand also anlässlich großer historischer Zäsuren ein bewusstes Aussondern, Bewahren und Reaktivieren von Konzepten, Wissen und Traditionen statt. Diese historische Praxis steht uns auch gegenwärtig als Handlungsoption zur Verfügung, denn die unterschiedlichen Verbindungsstränge in die Vergangenheit reißen nie gleichzeitig ab: In der uns umgebenden Landschaft mit ihren Kulturdenkmälern finden wir zahlreiche „Tore“ zur Welt der „Longue durée“ (Fernand Braudel), also der sich am dauerhaftesten in historischen Prozessen manifestierenden Strukturen. Diese „Zeit-Portale“ ermöglichen es uns, ganzheitlich — also Körper und Geist einbeziehend — mit dem überepochalen „Myzel“ unserer Kultur in sinnlichen Kontakt zu treten. Wir sollten jene Orte in diesem Bewusstsein aufsuchen: Sie können mit ihrer konkreten haptischen Erlebbarkeit unser Wahrnehmungsvermögen für zeitliche „Fern-Dimensionen“ sensibilisieren helfen. So eröffnet sich uns eine direkte Motivation zur Weitung des eigenen zeit-räumlichen Bezugshorizonts.
Platon erreichte seine Horizonterweiterung, indem er sich auf die Bewegung der Gestirne konzentrierte und darin eine vom gesellschaftlichen Chaos in seiner Umgebung unabhängige Ordnung erkannte. In der Spätantike erfolgte die geistige Neufokussierung als kreativer Gemeinschaftsakt: Als der Norden Europas im 6. Jahrhundert von jener gewaltigen Naturkatastrophe heimgesucht wurde, welche die sogenannte „kleine spätantike Eiszeit“ auslöste und gleichzeitig eine die alten römischen Metropolen erfassende Pest-Pandemie im Mittelmeerraum zu Weltuntergangsängsten führte, fand man den Ausweg in einem neuartigen, weit ausgreifenden kulturellen Konzept, welches das antike logische Denken, christliches Gedankengut und die emotionale Tiefe der mündlichen Kultur des skandinavisch geprägten Nord- und Ostsee-Raumes verschmolz und so die Grundlage für eine erneute europäische Hochphase der Kunst und des Denkens legte. Der Siegeszug der neuzeitlichen Kultur des „globalen Westens“ hingegen ist untrennbar mit der Erfindung des Buchdrucks verbunden. Bücher etablierten sich als Medium einer neuartigen Qualität der Selbsterfahrung des Lesenden als autonomes Subjekt. Erst diese Voraussetzung machte das Denken der klassischen Moderne in seiner ganzen Komplexität und Kühnheit möglich.
Wer Neues will, benötigt Verständnis und Struktur im Jetzt
Die vor einigen Jahrzehnten eingeleitete „ökologisch-digitale Revolution“ basiert auf älteren Entwicklungen naturwissenschaftlicher Methoden zur Verifizierung geisteswissenschaftlich konstruierter Beschreibungsmodelle. Am Beispiel der Archäologie — einem wichtigen Überlappungsgebiet zwischen Geistes- und Naturwissenschaften — lässt sich exemplarisch verfolgen, wie zunächst neuartige „ökologische“ Mess- und Dokumentationsmethoden und später digitale Datenverarbeitungs-, Bildgebungs- und Auswertungsverfahren zur stetig wachsenden Notwendigkeit einer reinigenden Überarbeitung etablierter Deutungsmodelle führten. Die Geisteswissenschaften erhielten so aus der Richtung der Naturwissenschaften Impulse in Richtung einer methodischen Achtsamkeit. Das infolge dieses Austauschs entstandene wissenschaftliche Verantwortungsgefühl gegenüber sprachlich-ideologischen Konstruktionen bringt nun den eigentlichen „Stoff des Wandels“ hervor: neuartige, unter Wissenschaftlern global abgestimmte, sprachliche „Sinn-Konventionen“, auf deren Basis zahlreiche, bisher als unvereinbare Gegensatzpaare beschriebene, Kategorien in ein universales System des vernetzten Denkens einbezogen werden können. Durch jenen Prozess wird die „Grenzenfixiertheit“ des sterbenden Weltbildes überwunden, da die dem neuzeitlichen westlichen Denken zugrunde liegenden geistigen Trennlinien zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit und dem Hier und dem Dort eingeebnet werden können.
Inzwischen entstand so ein neuartiger wissenschaftlicher Zugang zu unserer Umwelt, welcher Komplexität nicht ideologisch zu Gegensatzpaaren vereinfachen muss, sondern den Blick auf „zerklüftete“ und „unzähmbare“ Realitäten zulässt. Diese neue Perspektive mental zu beherrschen, stellt eine Herausforderung dar, denn die von der Wissenschaft ausgehende Konfrontation mit „ungefilterter Wirklichkeit“ verlagert die Aufgabe der „Bewältigungsarbeit“ wieder zurück in die kulturelle Sphäre. Dort fällt sie zunächst in den Bereich der künstlerischen Reflexion, also des Umgangs, der Darstellung und Bewusstmachung von Spannungszuständen im ursprünglichen Sinne des Wortes „verstehen“ als „vor einem Objekt stehen“ (um es besser wahrnehmen zu können). Das so von der Wissenschaft produzierte und von der Kunst „verständlich“ gemachte Wissen wird schließlich von der religiösen Sphäre — mithilfe ihres reichen Schatzes an rituellen Techniken und kontemplativen Traditionen — über demonstrative und zur aktiven Anteilnahme einladende Verarbeitungsprozesse auf der Basis einer emotionalen „Akzeptanz der zerklüfteten Wirklichkeit in Liebe“ zu einer mentalen „Universitas“ integriert.
Mit der Wiederbelebung jener vormodernen „Arbeitsteilung“ zwischen Wissenschaft, Kunst und Religionen werden die vom westlich-neuzeitlichen Denken vorgenommenen Grenzziehungen zwischen den großen überepochalen Erkenntnissystemen überwunden.
Als Medium zur Verständigung über Wissen rückt die Kunst in der bevorstehenden Epoche also wieder auf ihren angestammten Ort im Zentrum unserer Gesellschaft zurück, dorthin, wo gegenwärtig noch die „Lobbyisten des Wachstums“ mit ihren ideologischen Erklärungserzählungen Platz genommen haben. In der notwendigen Emanzipation der Kunst von ihrer neuzeitlichen Fesselung an die politische und wirtschaftliche Macht liegt folglich ein revolutionäres Konfliktpotenzial, welches sich möglicherweise bereits im gegenwärtig anhebenden Kampf von Künstlern um ihren Platz in der Gesellschaft zu entladen beginnt.
Die „Sprache“ der Kunst kann sich älterer kommunikativer Mittel bedienen als des logisch-argumentativen Verbalisierens. Diese Fähigkeit zur kommunikativen Einbeziehung der archetypischen „Longue durée“-Ebene ermöglicht dem Menschen eine direkte und ganzheitliche „Tiefenprüfung“ künstlerischer Aussagen mit allen ihm zur Verfügung stehenden mentalen und emotionalen Sensoren. Eine intensivere Möglichkeit zur Beurteilung als bei der Begegnung mit Kunst ist folglich nicht möglich. Das macht ihren Wert als überzeitliches Transfermittel für Wissen aus.
Erst im Zusammenwirken der aus sich selbst heraus verifizierbaren „Sprache“ der Kunst mit dem überkommenen Repertoire an religiösen Kulturtechniken zur Integration von Widersprüchen und Brüchen werden wir in die Lage versetzt, die ungestüme Totalität der ideologiefreien wissenschaftlichen Erkenntnis gewinnbringend in unseren Emotionen Halt gebende universale Strukturen zu übersetzen, um so — jenseits argumentativ-ideologischer Verzerrungen — einen Zugang zu wesentlichen Grundkonzepten unserer Welt erlangen zu können, dessen ganzheitliche Qualität diejenige des von „Grenzenfetischismus“ geprägten Weltbildes der zurückliegenden neuzeitlichen Epoche weit übersteigen dürfte. Auf der Basis dieses neuartigen kulturellen Fundaments kann die in unseren Gefühlen wurzelnde Energie jenen festen Grund finden, der für einen gerichteten „Absprung“ in „das Neue“ notwendig ist. Solange uns aber das Bündeln unserer Emotionen nicht gelingt, „drehen Energien frei“. Dieser „Zerstörungsmodus“ ungerichteter Emotionalität ist sinnvoll, um das Alte zu zerschlagen. Er hilft aber nicht bei der Suche nach dem Neuen: Wer Neues denken will, benötigt Verständnis und Struktur im Jetzt!
Unsere Vergangenheit zeigt, dass sich der menschliche Erkenntnisdrang nicht dauerhaft behindern lässt. Trotz des Wunsches vieler, den laufenden Transformationsprozess zu stoppen oder gar umzukehren, wird es daher kein dauerhaftes Zurück zu Vorstellungen des Denkens in die geistig abgegrenzten ideologischen Seinsformen der neuzeitlichen Vergangenheit geben, da unser Wissen nicht mehr — wie in den vergangenen Jahrhunderten — an das „formatierend“ eingrenzende Trägermedium Papier gekoppelt ist. Mit dem Ende der formalen Begrenztheit eines an die materielle Physis gebundenen Datenträgers verlor auch die Notwendigkeit von territorialen Grenzziehungen völlig ihren Sinn. Inzwischen konfrontiert uns unsere technologische Gestaltungsmacht längst mit einer globalen Verantwortung, welche sich im Gedankenmodell staatlich eingegrenzter „Völker“ als Konsequenz einer noch immer an den Prinzipien des hierarchisch-papiernen frühneuzeitlichen Fürstenstaates ausgerichteten Verwaltungsmaschinerie weder abbilden noch handhaben lässt.
Jenseits des Egoismus: Vom Empfinden der Resonanz zur Verantwortung
Das Denken der vergangenen Neuzeit umgrenzte das „Ich“ zum „autonomen Subjekt“, das „Wir“ zum „autonomen Volk“ und schließlich „Gott“ zu einer „Deifizierung“ des „autonomen Nationalstaates“. Gegenwärtig erfahren wir hingegen immer deutlicher, dass alles in unserem globalen ökologischen System mit allem interagiert. Der blinde Glaube an das „autonome Subjekt“, welches — als geteilte Fiktion einer Gemeinschaft der Lesenden — in der neuzeitlichen Vergangenheit so vertraut geworden zu sein scheint, löst sich in einer Welt aus bewusst wahrgenommenen universalen Beziehungsnetzwerken ebenso auf wie die ideologische Erzählung vom „Volkskörper“ oder die naive Vorstellung von einem politische Partei ergreifenden personalen Gott.
Tatsächlich ist uns längst vertraut, dass eine große Vielfalt verbundener Faktoren, zumeist unbewusst, gleichzeitig auf uns einwirkt. Der aus dieser Erkenntnis resultierende Verlust des Glaubens an „autonome“ persönliche Identitäten findet auch im Kollektiven seine Entsprechung: So handelt es sich bei der bisher als stabile gemeinschaftliche Seinsform geglaubten Idee der „Völker“ offensichtlich keineswegs um statische, sondern aus hochdynamischen Wir-Beziehungen bestehende Gebilde, welche sich in mannigfacher Weise plötzlich verändern, mischen und überlagern können. Gottesvorstellungen, die personale Charakterzüge postulieren, sind schon seit der antiken platonischen Götterlehre obsolet!
Spannend wäre nun die Frage, wie Demokratie organisiert werden kann, wenn das zugrunde liegende Konzept von „Volk“ als Masse aus „souveränen Individuen“ längst wissenschaftlich dekonstruiert worden ist. Wie gestalten wir zukünftig Identitäten, wenn sich jegliche Vorstellungen von Barrieren — aufgrund ihrer relativen Durchlässigkeit und unserer unendlichen Verletz- und Vernetzbarkeit — lediglich als angstbetäubende Wunschvorstellungen herausstellen?
Wenn unser „Ich“ nicht in einem abgekapselten „Reinraum“ „autonom“ existiert, sondern — als Resultat lebendiger Beziehungsresonanzen mit unserer realen oder imaginierten Umgebung — jederzeit physisch oder psychisch „kontaminiert“ werden kann: Verpflichtet uns eben das nicht zu einer Achtsamkeit und Verantwortung gegenüber der nachhaltigen und ästhetischen Gestaltung jener Umgebung? Wenn wir anerkennen und würdigen müssen, dass Identitäten variabel und vielfältig sein können: Benötigen wir dann nicht erst recht eine in mitmenschlicher Nächstenliebe gemeinschaftlich geteilte Zielvorstellung?
Das reiche kulturelle Erfahrungswissen Hunderter Generationen steht uns in digitaler Form rund um die Uhr zur Verfügung: Ein Smartphone genügt, um diesen Schatz der Menschheit anzuzapfen. Faszinierende Technologie ermöglicht es uns, Informationen und Wissen besser zu verknüpfen als jemals zuvor. Die Methodik des wissenschaftlichen Denkens hat eine nie da gewesene Effizienz erreicht. All diese Potenziale liegen bereit und wollen von uns kreativ genutzt werden, um unseren Emotionen — und damit unserer Gestaltungsenergie — Richtung zu verleihen.
Mit einem mentalen Korsett aus dem Dampfmaschinen-Zeitalter aber fesseln wir uns selbst: Denn nicht seelenlose Technologie definiert unsere Handlungsspielräume: Erst sinngerichtetes Denken öffnet uns Pfade in die Zukunft. Zur Sinnstiftung benötigen wir keine körperlosen algorithmischen „Optimierungsmaschinen“, sondern die lustvolle Wiederbelebung der vormodernen triadischen Erkenntniseinheit aus logisch-valide produziertem Wissen, künstlerisch-verarbeitendem Verstand und religiös-integrativem Herz. Denn: Erkenntnis — und nicht Technologie — ermächtigt uns zur Tat!
Mit einer Einstellung des ängstlichen Festhaltens, der neoliberalen Fixierung auf konsumorientiertes Wuchern, des gnadenlosen Konkurrenz-Denkens und der induzierten Dauerunruhe blasenschlagender digitaler Selbstbespiegelungen aber bleiben wir „rasend regungslos“.
Konsumieren wir stattdessen neues Wissen, indem wir uns des künstlerischen Verstandes bedienen, um unser Herz in Liebe zu bilden! Ermächtigen wir uns des kulturellen Erfahrungsspeichers jenseits der zersprungenen neuzeitlichen Brille: Blicken wir nach vorn! Vor uns liegt Arbeit und es gilt anzupacken, nachzudenken, zu erkunden und zu forschen, auszuprobieren, zu diskutieren und zu gestalten — es gilt, „das Neue“ auf die Welt zu bringen!
Bernburg, November 2020
Weiterführende Literatur
Georg Glasze / Annika Mattissek (2009): „Schlüsselkonzepte und -aussagen der Diskurs- und Hegemonietheorie“ in Georg Glasze / Annika Mattissek: „Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung“ (2009), S. 157-179.
„Der Textabschnitt stellt die Hegemonie- und Diskurstheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor. Dieses Erklärungsmodell gesellschaftlicher Kommunikation „[…] hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Fluchtpunkt poststrukturalistischer Theoriebildung entwickelt und hat zahlreiche empirische Arbeiten der Diskursforschung inspiriert und angeleitet.“
https://archiv.geographie.uni-erlangen.de/wp-content/uploads/ggl_publik_hegemonieunddiskurstheorie_100120.pdf
Johannes Hoff (2018): „The Eclipse of Sacramental Realism in the Age of Reform: Re-thinking Luther’s Gutenberg Galaxy in a Post-Digital Age.“
„In den letzten 500 Jahren oszillierte unsere moderne Welt zwischen dem Glauben an „entzauberte“ Strategien der bürokratischen Kontrolle und Überwachung und der Feier ikonoklastischer Brüche, die unser Gefühl von Freiheit und Würde bewahren sollen. Doch das Gleichgewicht zwischen diesen Polen ist nach der Jahrtausendwende aus dem Lot geraten. Während die Besessenheit von Kontrolle konzertierte Bemühungen ausgelöst hat, unsere angeblich irrationale Intelligenz durch die „künstliche Intelligenz“ der digitalen Technologien zu ersetzen, hat die Einführung von ICT-Technologien in unser tägliches Leben die ikonoklastische Überzeugung untergraben, dass Artefakte lediglich Werkzeuge sind. Unsere Smartphones haben ein „magisches Leben“ an sich – sei es, dass sie sich ein Leben leisten, das wir schätzen, oder dass sie uns in ein Leben stürzen, das wir verabscheuen. Diese Herausforderung verlangt von uns, dass wir unsere Fähigkeit wiedererlangen, zwischen götzendienerischen Anhaftungen und dem umsichtigen Gebrauch „magischer Objekte“ zu unterscheiden, der mit unserem natürlichen Wunsch, unser Leben zum Besseren zu verändern, in Einklang steht. Im folgenden Aufsatz wird die Frage erörtert, inwieweit die Grundannahmen der konfessionalisierten Religionen der nachreformatorischen Ära uns von der Aufgabe ablenken, uns dieser Herausforderung zu stellen. Darüber hinaus wird er die moderne Neigung in Frage stellen, die Beschäftigung mit sakramentalen Objekten durch die Beschäftigung mit frommen „Hauptsignifikanten“ zu ersetzen: autoritative Substitute des „Leibes Christi“, wie die eucharistische Hostie, die Bibel oder säkulare Parteibücher, die die Bindung an religiöse Traditionen auf eine Frage des formalen Glaubens und die Unterwerfung unter ein autoritatives System klerikaler, bürokratischer oder (heute) roboterhafter Überwachung reduzieren.“ (Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator)
https://www.academia.edu/36741433/
Vincent August (2019): „Von ›Unregierbarkeit‹ zu Governance: Neoliberale, teleologische und technologische Staatskritik.“ In: Ahmet Cavuldak (Hg.): Die Grammatik der Demokratie. Das Staatsverständnis von Peter Graf Kielmansegg (Staatsverständnisse, 124), S. 287–312.
„Die Krisen der 1970er Jahre waren der Katalysator für eine große Transformation, in der die Beschaffenheit und das Verhältnis von ›Politik‹ und ›Gesellschaft‹ völlig neu austariert wurden. Der Beitrag analysiert die Transformation historisch und systematisch. Dafür umreiße ich das Staatsverständnis der Nachkriegszeit als Voraussetzung für die Krisendiskurse (2.) und stelle dann im Detail die vier großen Kritikstränge der Debatte vor: Institutionalismus, Neomarxismus, Neoliberalismus und Netzwerk-Denken (3. und 4.). Abschließend diskutiere ich den Wandel des Regierungs- und Staatsverständnisses, wie er sich in den neuen Deutungsmustern bereits abzeichnete (5.). In den Krisen haben der klassische Institutionalismus (Kielmansegg, Hennis, King z.B.) und der Neomarxismus (Offe, Mandel z.B.) analytisch und normativ an Einfluss verloren. An ihre Stelle traten nunmehr (neo-)liberale und technologische Rationalitäten, die unsere Vorstellungen von Staatlichkeit durch Markt- und Netzwerk-Logiken neu formten. Es ist daher unzureichend, unsere Gegenwart als neoliberale Welt zu beschreiben, denn dies unterschlägt den Einfluss und die Folgen eines zweiten Paradigmas: des Netzwerk-Denkens (Foucault, Luhmann, Crozier z.B.).“
https://www.researchgate.net/publication/333171299_Von_Unregierbarkeit_zu_Governance_Neoliberale_teleologische_und_technologische_Staatskritik/stats
Vom Vincent August erscheint voraussichtlich bis zum 27. März 2021 als Open Access zum Download:
Vincent August: „Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik“
„Das Netzwerk ist ein Grundbegriff des 21. Jahrhunderts geworden – und mit ihm die Diagnose, dass wir in einem neuen Zeitalter leben, in dem es auf Konnektivität, Flexibilität und Selbstorganisation ankommt. In einer groß angelegten Geschichte des Regierungsdenkens zeichnet Vincent August erstmals diese fundamentale Transformation nach. Er zeigt, dass unsere Welt keineswegs nur durch den Neoliberalismus geprägt wird – und dass die Netzwerk-Gesellschaft nicht einfach ein Resultat des Internets oder von Computern ist. Vielmehr griffen Berater*innen und Intellektuelle wie Foucault, Crozier oder Luhmann auf die Kybernetik zurück, um die Ideenwelt der Souveränität abzulösen und unser Regierungsdenken grundlegend zu verändern. Eine Analyse spätmoderner Gesellschaften kommt ohne eine Analyse dieses Netzwerk-Paradigmas nicht aus.“
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5597-1/technologisches-regieren/?number=978-3-8394-5597-5